22.12.2018

Oker

Ich radle meinen Nachhauseweg entlang, irgendwie ist mir saukalt, aber irgendwie bin ich auch selbst schuld, denn üblicherweise habe ich mich nicht dick genug angezogen. Den üblichen Umweg an der Oker entlang, links die Oker, kahle Bäume und meine Lieblingsbank, rechts vierstöckige Häuser mit Eigentumswohnungen, die so große Fenster haben, dass man sie unmöglich bezahlen kann. Große Räume, in denen nicht viel steht, als wenn Platz das neue Statussymbol wäre und nicht mehr dicke Autos oder teurer Whisky oder Aktentaschen oder Felle oder das neue iPhone XYZ oder komische T-Shirts von Levis, die einfach nur einfallslos sind mit ihrem roten Logo. Und so gucke ich in die großen Eigentumswohnungen von den Menschen, die es geschafft haben, die fleißig waren und die es sich leisten können, in ihre Bude bloß eine große Lampe und einen Sessel zu stellen und sonst nichts und ich bin nicht neidisch, wie ich es noch vor Jahren gewesen wäre, nein, ich freue mich, dass ich in ihre Wohnungen schauen kann und ab und zu mal jemanden sehe, der seine Katze streichelt oder seine Frau. Obwohl ich lieber Buntes sehen würde, statt immer den gleichen Brei aus viel Weiß, ein bisschen Schwarz und als pfiffigen Akzent mal etwas Silber. 
18:30 Uhr, Herr und Frau Wilhelm wie immer am Abendessen mit voll gefüllter Käseplatte, das werde ich nie verstehen, warum man Käse auf Platten packt, obwohl man sie doch auch aus der Packung essen kann und damit ein Brett weniger abwaschen muss. Herr Wilhelm ist ziemlich blass, blasser als sonst, ich wundere mich, ob er wohl heute schon genug getrunken hat, er sieht etwas kränkelnd aus. Frau Wilhelm trägt wie üblich eine Seidenbluse, heute in türkisblau und mit Puffärmeln, finde ich ganz schön hässlich und auch irgendwie unpassend für's Abendbrot, aber mein Gott, ich bin eben auch nicht das Maß aller Dinge und Geschmack ist nun mal auch nichts worüber man gescheit streiten kann. Sie streiten miteinander, ich wundere mich worüber - ob über Finanzen, die silberne Zimmerdeko in Form von Elefanten, die ganz schön öde wirkt, oder wohin der nächste Urlaub geht. Ich glaube,  Frau Wilhelm ist eher so der Provence-Typ und Herr Wilhelm voll der Ostsee-Mensch, irgendwo bei Polen vielleicht, wo's noch preiswert ist. Aber Provence wird eh nichts mehr, wenn's mit ihm weiter so bergab geht.
Ich setze mich auf die übliche Bank vor dem Haus und gucke mir die Oker an. Wenn Autos über die Brücke fahren, spiegeln sich deren Lichter ziemlich schön im Wasser und ich komme mir kurz vor wie in Aristocats, weiß aber nicht wieso. Und ich wundere mich, warum nicht jeder das Glück hat wie ich, nur ein paar Gehminuten von der Oker entfernt zu wohnen, oder das Glück der Wilhelms, die sogar beim Abendbrot vom Esszimmer beim Streiten aus auf die Oker sehen können, aber ich glaube, dafür ist die Oker auch einfach nicht lang genug.